Podiumsdiskussion im Rahmen der 2. Ahrweiler Freiheitswochen

Die Verantwortung des Einzelnen ineiner offenen demokratischen Gesellschaft

Die Verantwortung des Einzelnen in
einer offenen demokratischen Gesellschaft

Mit dem Thema „Reform der Gesellschaft – Zeit für Veränderung?“ beschäftigten sich (von links) Professor Dr. Klaus Töpfer, Moderatorin Ebba Hagenberg-Miliu und Karl Kardinal Lehmann. Jost

Bad Neuenahr. Die Verantwortung jedes Einzelnen in einer offenen demokratischen Gesellschaft strichen Karl Kardinal Lehmann und Professor Dr. Klaus Töpfer einmütig bei der Podiumsdiskussion im Rahmen der Ahrweiler Freiheitswochen heraus. „Die internationalen Abmachungen, die wir seit Jahrzehnten treffen, zeigen uns, dass es auch eine ganz andere und ganz eigene Reform gibt, indem wir nämlich unseren Rausch nach ‚immer weiter, immer höher, immer mehr‘ begrenzen“, betonte der Kardinal in der gut besuchten Konzerthalle im Kurpark Bad Neuenahr. Unter der Moderation von Ebba Hagenberg-Miliu gingen sie der Frage nach: „Reform der Gesellschaft – Zeit für Veränderungen?“

Kardinal Lehmann, von 1987 bis 2008 Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz und bis 2016 Bischof von Mainz, ist der diesjährige Preisträger der Freiheitswochen. In seinem tiefsinnigen Eingangsstatement definierte er unter anderem den Begriff der „Reform“ als an neuen Veränderung eines Zustandes oder eine Einstellung, von Lebensformen und Institutionen, einfach auf Anordnungen. „Eine solche Reform ist immer dann nötig, wenn wir eine Situation und ihre Gestaltung verändern wollen und müssen, weil sie mangelhaft sowie fehlerhaft sind und auch hinter anderen realen Gestaltungsmöglichkeiten zurückbleiben.“ Der Begriff der Reform stehe gleichsam in der Mitte zwischen Restauration und Revolution. Es handele sich um eine Veränderung, die das bisherige umgestalte, aber nicht mit Gewalt, sondern eben im Sinne einer Anknüpfung an das Gegebene, aber doch so, dass dies ein schöpferischer Moment der Neuerung bedeute.

Zwischen Kontinuität und schöpferischer Veränderung

Dass es überhaupt zwischen Restauration und Revolution so etwas wie Reform gebe, hänge mit der menschlichen Natur zusammen, zu der eben auch ein gewisser Spielraum von Freiheit in der Gestaltung der Um- und Mitwelt gehöre. „Man hat den Menschen immer in dieser Zwischenwelt zwischen Kontinuität und schöpferischer Veränderung gesehen“, so der Kardinal. Freilich habe der Mensch immer wieder erkennen müssen, dass Reformen nicht für die Ewigkeit seien. Auch wenn sie in einer bestimmten Zeit gelingen und sich auch bewährten, so veränderten sie sich auch wieder zusammen mit den Rahmenbedingungen. „Manches, was früher neu und kühn war, veraltet auch rasch und ist im Blick auf die ursprünglichen Ziele nicht mehr geeignet“, wusste er. Und manche Reform könne sich auch totlaufen, dann beginne der Wettlauf um die Neugestaltung, was kaum ohne einen tragfähigen Kompromiss erreicht werden könne. Leider schaffe die permanente Korrektur von Reformen ihre eigenen Probleme.

Lehmann macht im Hinblick auf die Veränderung unserer Zeitsituation deutlich: „Wir brauchen wieder Worte für ein neues Verhalten, welches wir geradezu vergessen haben, wie Verzicht, Umkehr, Maß, Demut, und zwar zunächst säkular verstanden.“ Der Fortschritt könne die Lebensbedingungen auch zerstören und die Menschheit sei nachdenklich geworden im Blick auf das, was sie alles könne. Mit Hinweis auf die Zweite Schöpfungserzählung der Bibel (Genesis 2,15) bemerkte Lehmann, der Mensch könne einer doppelgesichtigen Aufgabe nie entkommen. „Er ist ein Wesen, das baut, entwirft, Neues probiert, kühn, wagemutig ist und unsere Welt erweitert und dabei Gutes und Heilsames bewirken kann. Er darf aber nie vergessen, dass er zugleich die andere Aufgabe nicht verachten darf: er muss den Garten von Eden hüten, also bewahren, nicht zugrunde richten, hegen und pflegen. Beides steht in Spannung.“ Er sei der Ansicht, dass dieses Leitwort vom Bauen und Bewahren eben auch für alle recht verstandenen Reformen gelte.

Freiheit erfordert, dass der Mensch Grenzen setzt

Freiheitswochen-Schirmherr Töpfer pflichtete ihm bei: „Freiheit erfordert, dass der Mensch Grenzen setzt, indem er sich den technischen Möglichkeiten nicht unterordnet, sondern deren Nutzung in seine ethische Verantwortung nimmt, sich Freiheit zurückerkämpft.“ Er sprach in seinem Eingangsreferat davon, dass die Schnelllebigkeit der Zeit dazu führe, dass man immer weniger Zeit zum Nachdenken habe. „Wir Leben mehr und mehr unter dem Diktat der Kurzfristigkeit, wir entscheiden immer schneller und haben immer weniger Zeit, über Alternativen nachzudenken.“ Und ohne Zeit zum Nachdenken werde eine Entscheidung schnell alternativlos, ohne es tatsächlich zu sein.

Töpfer verwies auf die „großartige Enzyklika Laudato Si“ von Papst Franziskus, die letztlich die Frage stellen, wie frei der Mensch überhaupt noch sei, ob er nicht mittlerweile von der Technik und vom wissenschaftlichen Fortschritt beherrscht werde. Diese neuartige Gefährdung der Freiheit sei äußerst real. „Sie wird auch durch Big Data, durch Decodierung des menschlichen Genoms, durch synthetische Biologie und vieles mehr perspektivisch noch wesentlich verschärft.“ Eine Technik ohne Ethik werde maßlos und begrenzte letztlich die Freiheit. Mittlerweile sei es so, dass Wachstum nur noch entstehe aus der Beseitigung der negativen Folgen vorangegangener Entscheidungen.

Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen nicht laufen lassen

Töpfer beklagte aber auch den bei den Bürgern grassierenden Vertrauensverlust gegenüber den Institutionen und Personen, die Verantwortung übernähmen. Der Schirmherr wies auf die Gefahren hin, dass neben der so beschimpften „Lügenpresse“ inzwischen auch die „Lügenwissenschaft“ an den Pranger gestellt werde: „Das Unwort des Jahres 2017 ist postfaktisch.“ Er plädierte aber dafür, diesen Vertrauensverlust nicht „laufen zu lassen“, sondern gegen zu halten – und die „Ahrweiler Freiheitswochen“ seien geradezu prädestiniert, alternative Perspektiven aufzuzeigen. Er bedauerte aber auch, dass notwendige Veränderungen in einer Demokratie nicht immer von der Mehrheit goutiert würden und erinnerte an die Agenda 2010, die Deutschland nach vorne gebracht, der SPD aber sehr geschadet habe. Dabei machte er klar, dass ein Fatalismus fehl am Platze sei: „Die Zukunft kommt nicht, sondern sie wird gestaltet.“ Letztlich sei es wichtig, wieder Zeit zu gewinnen zum Nachdenken über die Konsequenzen des eigenen Handelns.

Ob denn nicht die Kirchen angesichts der Verunsicherung des Einzelnen in der globalen Welt noch aktiver als Wertevermittler tätig sein müssten, fragten Hagenberg-Miliu und das Publikum in der munteren Diskussion nach. Kardinal Lehmann räumte ein, dass der Einfluss der Kirchen aktuell geringer geworden sei, aber dass ja auch Bildungseinrichtungen, die Familie, ja letztlich jeder Einzelne in der Pflicht stehe, das biblische Leitwort vom Bauen und Bewahren zu beherzigen.

Gegen eine Obergrenze aufzunehmender Flüchtlinge

Auf Nachfrage sprachen sich sowohl Lehmann als auch Töpfer dann ausdrücklich gegen eine Obergrenze aufzunehmender Flüchtlinge aus. Was Klaus Töpfer denn selbst reformieren würden, wenn er gleich Martin Luther heute Reformatoren wäre? „Ich hätte gerne stärkere Vereinte Nationen“, antwortete der langjährige UN-Repräsentant. Und das ausdrücklich vor dem Hintergrund, dass der US-Präsident gerade ankündigte, Gelder für die UN streichen zu wollen. Horst Gies als Vorsitzender des Veranstalters „Freiheiter“ zeigte sich mit dieser vierten großen Podiumsdiskussion der Freiheitswochen äußerst zufrieden. „Dieser Abend hat uns gezeigt, wie wichtig unser Anliegen ist, für Freiheit und Toleranz in unserer Gesellschaft zu werben.“