- Anzeige -Gregor Gysi liest in Koblenz

Nicht Wünsche, sondern Realitäten wählen

Nicht Wünsche, sondern Realitäten wählen

Gregor Gysi Copyright: Inga Haar/Quelle: lausitz.live

Koblenz. Am Mittwoch, 22. Mai um 20 Uhr kommt Gregor Gysi in die Rhein-Halle nach Koblenz und erzählt und rezitiert aus „Ein Leben ist zu wenig. Die Autobiographie.“ und stellt seine aktuellen Bücher „Was Politiker nicht sagen…“ und „Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi“ vor.

BLICK aktuell sprach im Vorfeld seiner Lesung mit Gregor Gysi.

BLICK aktuell: Herr Gysi, Sie befinden sich derzeit auf Lesereise und stellen dem interessierten Publikum Ihre Bücher vor. Wann ist ein solcher Abend für Sie ein „gelungener Abend“?

Gregor Gysi: Wenn die Zuschauerinnen und Zuschauer meine geäußerten Gedanken politisch interessant und ernstzunehmend finden und sich gleichzeitig gut unterhalten fühlen, also auch lachen müssen.

BLICK aktuell: Auf Ihrer aktuellen Lesereise kommen Sie auch nach Koblenz. Bleibt Ihnen bei Ihren Terminen auch etwas Zeit, die Städte, in denen Sie auftreten und die Menschen dort vor Ort kennenzulernen?

Gregor Gysi: Vor ein paar Jahren bin ich noch von Termin zu Termin gehetzt, heute versuche ich mir gelegentlich etwas Zeit zu nehmen, um mir die Stadt oder die Gegend anzuschauen. Dabei schieße ich mit dem Handy auch Fotos, die ich an meine Familie und Freundinnen und Freunde sende. Inzwischen beschweren sich einzelne schon, wenn ich doch einmal nicht dazu komme.

BLICK aktuell: Gibt es eine lustige/kuriose Anekdote aus einer Ihrer Lesungen?

Gregor Gysi: Ich finde, solche Lesungen dürfen nicht nur bierernst sein, der Humor darf dabei nicht zu kurz kommen. Und man muss auch mal selbstironisch sein, also Scherze scheinbar zu Lasten der eigenen Person machen. Regelmäßig stelle ich fest, dass die Bundesregierung überfordert ist. Sie hat es mit zwei Kriegen, einer Klimakatastrophe, einer Inflation, einer Energiekrise und nun endlich auch mit der Aufarbeitung der Pandemie zu tun. Eine Unions-geführte Regierung wäre ähnlich überfordert. Es gäbe nur eine Regierung, die nicht überfordert wäre. Welche erzähle ich Ihnen aber heute nicht.

BLICK aktuell: Was würden Sie einem jungen Menschen heute mit auf den Weg geben?

Gregor Gysi: Sich selbst nicht zu ernst zu nehmen, keine Angst davor zu haben, auch mal anzuecken und immer neugierig zu bleiben auf Menschen, Regionen, Natur und Entwicklungen. Ich finde es bemerkenswert, dass die jungen Leute im Unterschied zu meiner Generation ein weithin anderes Verständnis davon haben, wie sehr die Arbeit das eigene Leben bestimmen darf. Wir haben Vieles, inzwischen meine ich, vielleicht sogar zu Vieles der Arbeit untergeordnet, während die heutige junge Generation meint, dass die Arbeit zu ihrem Leben zu passen habe. Eine interessante neue Einstellung, über die auch wir Älteren nachdenken sollten.

BLICK aktuell: Wo sehen Sie derzeit die größten Verunsicherungen in unserer Gesellschaft?

Gregor Gysi: Wir leben in einer Zeit der oben genannten multiplen Krisen, die sich gegenseitig verstärken. Die Eltern wissen heute nicht mehr, ob es ihren Kindern einmal besser gehen wird als ihnen. Alle Generationen nach 1945 waren davon überzeugt. Die Mehrheit der jungen Leute will wegen ihrer tiefen Verunsicherung keine Kinder mehr zur Welt bringen. Dass verstärkt die Krisen. Die Ungewissheit rührt auch daher, dass inzwischen fast 18 Millionen Menschen in unserem Land von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen sind. Die sich immer weiter öffnende soziale Schere spaltet die Gesellschaften bei uns und weltweit immer tiefer. Es geht nicht für alle auf- oder abwärts, sondern für einen kleinen Teil, das heißt die wirklich Reichen, permanent aufwärts und für die anderen abwärts. Bei uns sind die Reallöhne von 2020 bis 2023 gesunken, während das Nettovermögen der Reichen um 70 Milliarden Euro zunahm. Wir brauchen Steuergerechtigkeit, die bei uns fehlt, weil fast alles von der Mitte bezahlt wird, das heißt von Menschen mit mittleren Einkommen und vom Mittelstand. Wir benötigen Investitionen in bezahlbares Wohnen, in Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und Digitalisierung.

BLICK aktuell: Wo wünschen Sie sich mehr Mut und Zuversicht in Deutschland?

Gregor Gysi: Wir Menschen sollten umdenken, also nicht nur permanent darüber nachdenken, was uns fehlt, sondern auch darüber, was wir haben. Wir müssen lernen, nicht Wünsche, sondern Realitäten zu wählen. Die Regierung müsste den Mut zu einem Ausstieg aus Kriegen, zu wirklichen Friedensinitiativen haben. Sie muss den Mumm entwickeln, auch von großen Konzernen und Banken und den wirklich Reichen angemessene Steuern zu verlangen. Wir alle dürfen bei der ökologischen Nachhaltigkeit nie die soziale Verantwortung vergessen. Und dann brauchen wir endlich bedeutende Schritte für die Gleichstellung von Frau und Mann und die Gleichstellung von Ost und West. Eine Regierung, die eine Energiekrise organisiert, müsste auch verpflichtet sein, die Mehrkosten zu erstatten. SPS