Flutkatastrophe an der Ahr: Staatsanwaltschaft Koblenz stellt Verfahren gegen ehemaligen Landrat sowie Brand- und Katastrophenschutzinspekteur ein

„Politische und moralische Bewertungen hat die Staatsanwaltschaft nicht vorzunehmen“

„Politische und moralische Bewertungen hat die Staatsanwaltschaft nicht vorzunehmen“

Innenminister Roger Lewentz und Landrat Dr. Jürgen Pföhler machten sich am Abend des 14. Juli 2021 im Krisenstab der Kreisverwaltung ein Bild der Lage. Foto: Archiv/Kreisverwaltung Ahrweiler

Koblenz. 1039 Tage nach der Flut und zweieinhalb Jahre nach Aufnahme ihrer Arbeit hat die Staatsanwaltschaft Koblenz das im Zusammenhang mit der Ahrflut 2021 mit 135 Todesopfern geführte Ermittlungsverfahren gegen den früheren Ahrweiler Landrat Dr. Jürgen Pföhler und seinen damaligen Brand- und Katastrophenschutzinspekteur Michael Z. als Leiter der Technischen Einsatzleitung eingestellt. Das teilte der Leitende Oberstaatsanwalt Mario Mannweiler bei einer Pressekonferenz in Koblenz mit. Nach dem Ergebnis des bisher wohl größten Ermittlungsverfahrens seiner Behörde habe sich kein hinreichender Tatverdacht ergeben. Eine strafgerichtliche Verurteilung sei nicht zu erreichen. Deshalb sei die Staatsanwaltschaft zur Einstellung des Verfahrens verpflichtet.

Das Ermittlungsverfahren wurde laut Mannweiler insbesondere wegen des Verdachts der fahrlässigen Tötung durch Unterlassen und der fahrlässigen Körperverletzung im Amt durch Unterlassen geführt. Dabei sei es „ausschließlich um die strafrechtliche Betrachtung“ gegangen. „Politische, charakterliche und moralische Bewertungen hat die Staatsanwaltschaft nicht vorzunehmen, da diese für die strafrechtliche Beurteilung ohne Belang sind“, machte der Leitende Oberstaatsanwalt klar, dass Strafrecht kein Wunschkonzert ist, auch wenn sich viele Betroffene eine gerichtliche Aufarbeitung wünschten.

Die Voraussetzungen

Eine fahrlässige Tötung oder Körperverletzung durch Unterlassen setze voraus, dass eine gebotene Handlung oder Maßnahme objektiv pflichtwidrig unterlassen worden sei und die Beschuldigten nach ihren subjektiven Kenntnissen und Fähigkeiten diese Pflichtwidrigkeit hätten erkennen und vermeiden können. Ferner sei erforderlich, dass festgestellt werden könne, dass durch die Vornahme einer konkret zu bestimmenden Maßnahme oder Handlung Personenschäden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wären. Eine Strafbarkeit scheide demnach aus, wenn die Personenschäden möglicherweise auch bei pflichtgemäßem Handeln eingetreten wären. „Nach dem Ergebnis der Ermittlungen ist das Vorliegen dieser Strafbarkeitsvoraussetzungen nicht nachzuweisen“, so Mannweiler.

Bei den Ermittlungen durch das Landeskriminalamt wurden rund 300 Zeugen gehört, 15500 Notrufe gesichert, 11000 Notrufe ausgewertet, von denen 6200 von Interesse waren, 20 Terrabyte an Daten gesichtet sowie 20000 Seiten Papierakten bearbeitet, berichtete Mario Germano als Leiter des Landeskriminalamtes.

„Ausmaß nicht vorhersehbar“

„Bei der Flutkatastrophe 2021 handelte es sich um eine außergewöhnliche Naturkatastrophe, deren extremes Ausmaß für die Verantwortlichen des Kreises Ahrweiler nicht vorhersehbar war“, sagte Mannweiler. Das habe ein hydrologisches Sachverständigengutachten bestätigt. „Vergleichbare Hochwasser hat es in menschenerdenklicher Zeit an der Ahr nicht gegeben. Die Flut 2021 hat alles, was die Menschen zuvor erlebt haben, weit übertroffen und war für Anwohner, Betroffene, Einsatzkräfte und Einsatzverantwortliche gleichermaßen subjektiv unvorstellbar.“ Vor diesem Hintergrund lasse sich ein strafrechtlicher Vorwurf nicht mit dem Unterlassen der Anordnung frühzeitiger Massenevakuierungen entlang der Ahr begründen. „Das extreme Ausmaß der Flut und deren konkreter Verlauf waren für die Beschuldigten nicht vorherzusehen“, so der Chefankläger.

Die Beschuldigten hätten darüber hinaus auch zu keinem Zeitpunkt während der Katastrophe ein Lage- und Erkenntnisbild gehabt, das sie zu Maßnahmen befähigt hätte, durch die mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit Personenschäden abgewendet worden wären. „Der Landrat hatte zudem auch zu keinem Zeitpunkt einen über die Erkenntnisse des Leiters der Technischen Einsatzleitung (TEL) hinausgehenden Kenntnisstand.“

Es sei nach dem Ergebnis der Ermittlungen davon auszugehen, dass die TEL von einem sehr starken Hochwasser ausging, das möglicherweise das Hochwasser von 2016 noch übersteigen werde. Der später erreichte tatsächliche Pegelstand (etwa 10 Meter in Altenahr) habe jedoch alle Prognosen übertroffen. Zu einer Ausrufung des Katastrophenfalls habe der Kreis sich zunächst noch nicht veranlasst gesehen. Da der Kreis aber die Einsatzleitung um 17.40 Uhr übernommen habe, habe er faktisch die höchste Alarmstufe ausgerufen. „Aus der Unterlassung der förmlichen Erhöhung der Alarmstufe kann dementsprechend kein strafrechtlicher Vorwurf abgeleitet werden“, so Mannweiler.

Dramatik nicht bekannt

Die TEL sei um 19.35 Uhr noch von „einer sehr ernsten, aber noch beherrschbaren Situation“ ausgegangen. Die Dramatik der Geschehnisse an der Ober- und auch bereits an der Mittelahr sei der TEL nicht bekannt gewesen. Gleiches gelte für das Ausmaß und die Wucht der Sturzflutwellen. Ihr wurde von Einsatzkräften vor Ort kein entsprechendes Lagebild vermittelt. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen dürfte der TEL erst zwischen 20 und 21.30 Uhr sukzessive die Dramatik der Situation immer mehr bewusst geworden sein, nicht aber das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe. Mannweiler: „Der tatsächlich erreichte Pegelstand von zehn Metern galt gemeinhin als unvorstellbar und war zu keinem Zeitpunkt prognostiziert worden. Gleiches gilt für den sturzflutartigen Charakter der Flut Die TEL war auch nach 20 Uhr weiterhin fortlaufend bemüht, zusätzliche Kräfte heranzuschaffen - Hubschrauber, Bundeswehrkräfte, Schnelleinsatzgruppen, Nationales Hilfeersuchen, Technisches Hilfswerk.“

Zu diesem späten Zeitpunkt sei die TEL nicht mehr in der Lage gewesen, eine gezielte, planvoll-organisierte Evakuierung anzuordnen. Eine umfassende, flächendeckende und im Anschluss kontrollierte Zwangsräumung aller Ahranwohner an der Unterahr sei angesichts der Dynamik der Lage und des knappen Zeitfensters nicht mehr möglich gewesen. „Das akute Einsatzgebiet erstreckte sich zu dieser Zeit über 60km beidseits entlang der Ahr. Zahlreiche Einsatzkräfte waren durch fortlaufende Akuteinsätze gebunden. Die Mobilität der Einsatzkräfte war flutbedingt eingeschränkt“, so Mannweiler.

Einzig möglich gewesen seien noch Ad-hoc-Räumungen und Räumungsaufforderungen. Diese einen von den Einsatzkräften in Bad Neuenahr-Ahrweiler, Bad Bodendorf und Sinzig auch durchgeführt worden, „allerdings konnten nicht mehr alle Menschen in den betroffenen Gebieten erreicht werden“. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen sei nicht sicher festzustellen, ob durch weitergehende und frühere Räumungsaufforderungen Personenschäden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vermieden worden wären.

Tragödie in Sinzig

In Sinzig habe die Abschnitteinsatzleitung weitgehend die Zeitvorteile genutzt, die man in Bad Neuenahr-Ahrweiler nicht mehr gehabt habe. Es fanden im Rahmen des Möglichen systematische Warnungen und Räumungsaufforderungen der ahrnahen Bevölkerung statt. „Umso trauriger ist es, dass gleichwohl durch eine Verkettung schicksalhaft-tragischer Umstände in einer Betreuungseinrichtung zwölf Heimbewohner ertrunken sind“, so der Leitende Oberstaatsanwalt. Die Feuerwehr sei zweimal vor Ort gewesen und hätte den anwesenden Betreuer gewarnt. „Leider erreichte die Flutwelle die Einrichtung gerade als dieser im Begriff war, die Heimbewohner in Sicherheit zu bringen. Letztlich reichte die Zeit nicht mehr aus. Die Geschwindigkeit der Flutwelle und die extreme Wasserhöhe war für die Einsatzkräfte vor Ort, für den Betreuer wie auch für die Beschuldigten nicht vorstellbar und überraschte alle“, sagte Mannweiler.

Mängel im Katastrophenschutz

Nach dem Ergebnis der Ermittlungen ist der Katastrophenschutz im Kreis Ahrweiler unzureichend organisiert gewesen. Das Führungssystem des Katastrophenschutzes habe eine ganze Reihe von Mängeln aufgewiesen. Dafür trage in erster Linie der politisch und administrativ gesamtverantwortliche ehemalige Landrat die Verantwortung. Diese durchaus beachtlichen Mängel begründeten indes keine Strafbarkeit. Auch habe ein Gutachten nachvollziehbar dargelegt, „dass eine optimalere Katastrophenschutzorganisation des Landkreises zwar die Chancen auf Rettung einer größeren Zahl von Menschen erhöht hätte, aber letztlich nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festgestellt werden könne, ob dies tatsächlich der Fall gewesen wäre“. Gegen die Entscheidung der Staatsanwaltschaft ist bei der Generalstaatsanwaltschaft Koblenz möglich. Weist diese die Beschwerde zurück, so kann ein Antrag auf gerichtliche Entscheidung gestellt werden, über den das Oberlandesgericht Koblenz entscheidet.

„Wissen um unendliches Leid“

Mannweiler final: „Die Staatsanwaltschaft ist sich bewusst, dass die Flutkatastrophe unendliches Leid über die Menschen im Ahrtal gebracht hat. Wir wissen, wieviel die Menschen mitgemacht haben und noch immer mitmachen. Wir wissen, wieviel Trauer und Erschütterung die Katastrophe ausgelöst hat. Wir kennen zahlreiche Schilderungen menschlicher Schicksale und Verluste, die uns sehr betroffen machen. Doch auch in einer menschlich so schwierigen Situation hat eine Staatsanwaltschaft eine gesetzlich klar definierte und sehr eingeschränkte Aufgabe. Sie hat eine rein strafrechtliche Prüfung vorzunehmen. Diese Prüfung hat die Staatsanwaltschaft vorgenommen, objektiv, unabhängig und nach bestem Wissen und Gewissen.“

GS

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