Ausstellungseröffnung in der Synagoge Niederzissen
„Das Leben war jetzt Draußen, und ich war dort Drinnen“
Zwangssterilisation und Ermordung im Rahmen der NS-“Euthanasie“ und ihre Opfer
Niederzissen. Kurz vor dem 85. Jahrestag der Reichspogromnacht, als Nazihorden jüdisches Leben und jüdische Infrastruktur zerstörten, fand in der renovierten Synagoge Niederzissen eine bemerkenswerte Ausstellungseröffnung statt. Dem rührigen Kultur- und Heimatverein Niederzissen mit Richard Keuler an der Spitze ist es gelungen, eine Wanderausstellung mit dem Titel „Das Leben war jetzt Draussen, und ich war dort Drinnen“ zum Thema Zwangssterilisation und Ermordung im Rahmen der NS-“Euthanasie“ zu organisieren. Mit Blick auf Opfer und Täter sind dort 13 Bildtafeln aufgestellt, die in bewegender Weise die verschiedenen Phasen der „Euthanasie“, Orte der Vernichtung, nationalsozialistische „Rassenpolitik“ und insbesondere examplarische Biographien verschiedener Opfer beleuchten. Konzipiert wurde diese Landesausstellung vom „Haus des Erinnerns“ in Mainz.
Eröffnet wurde die Ausstellung von Richard Keuler, der die vielen Gäste begrüßte und daran erinnerte, dass die Euthanasie jeden Betroffenen von körperlichen, geistigen oder seelischen Erkrankungen unabhängig von ihrem Glauben treffen konnte. Dabei ist der Begriff „Euthanasie“ (auf griechisch „schöner Tod“) ein zynischer Verhüllungsbegriff der Nazis für die verbrecherische Tötung kranker Menschen, dem über 200.000 Menschen, darunter 40.000 Kinder zum Opfer fielen. Und Richard Keuler erinnert an die kürzlich getroffene Aussage des Faschisten und AfD-Funktionärs Björn Höcke, dass Inklusion, also Teilhabe von Behinderten, ein Ideologieprojekt sei, das abgeschafft werden müsse. Von einer solchen Forderung ist es nicht mehr weit zu Absonderung und Vernichtung der Betroffenen.
Daniel Stich vom Ministerium für Wissenschaft und Gesundheit erinnerte an die Massaker der Hamas in Israel vor wenigen Wochen und forderte: „Wir alle sind aufgerufen uns einzusetzen für jüdisches Leben in Freiheit und Sicherheit.“ Er benannte, dass nicht nur jüdische Menschen an 37 Orten in Rheinland-Pfalz durch die sog. Euthanasie gequält und getötet worden sind, und verwies auf den neuen Staatsvertrag zwischen dem Land Rheinland-Pfalz und dem Landesverband der jüdischen Gemeinden, der demnächst abgeschlossen wird.
Solange das Wort „Jude“ als Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen benutzt wird, ist schulpädagogisch noch viel zu tun. Dafür kann die Ausstellung einen wertvollen Beitrag leisten, haben sich doch bereits sechs Gruppen von SchülerInnen als Besucher angemeldet.
Ortsbürgermeister Rolf Hans wertschätzte in seinen Grußworten die Arbeit des Kultur- und Heimatvereins Niederzissen, während in Vertretung der Landrätin der Beigeordnete des Kreises Friedhelm Münch sehr bewegt sagte: „ Man hört förmlich den Schmerz und den Schrei der Gequälten“, und weiter: „Es ist eine Geschichte, die menschliches Versagen dokumentiert.“
Avadislav Avadiev, Landesvorsitzender der jüdischen Gemeinden RLP, berichtete, dass er bewusst als Jude nach Deutschland eingewandert sei, damit nicht mehr gesagt werden kann, Deutschland sei judenfrei. Er sei stolz darauf, Deutscher zu sein. „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist“, so Herr Avadiev. Durch die Ausstellung sollen die Namen der Opfer wieder bekannt werden. Auch er erwähnte den barbarischen Angriff der Hamas auf Israel am 07.10.2023 und das Leid, das dieses Morden von unschuldigen Bürgern ausgelöst hat. Dazu sagte er einen sehr bemerkenswerten Satz: „Mein Herz schmerzt genauso für die unschuldigen Opfer der anderen Seite.“
Henrik Drechsler vom „Haus des Erinnerns“ in Mainz stellte dann die Ausstellung vor. Konzipiert 2019/20 und unterbrochen durch die Pandemie soll die Ausstellung den noch blinden Fleck „Euthanasie“ beleuchten und hat folgenden Zweck: Zum einen soll darauf aufmerksam gemacht werden, welch weiter Weg es für Betroffene war, als Opfer der NS-Barbarei anerkannt zu werden. Zum anderen sollen junge Menschen durch den Besuch der Ausstellung sensibilisiert werden für ein düsteres Kapitel der Landesgeschichte. Herr Drechsler benannte, dass die „Euthanasie“ keine Erfindung der Nazis war, sondern dass bereits Ende des 19.Jahrhunderts Professoren und Wissenschaftler forderten, einen „gesunden Volkskörper“ zu schaffen und dabei den Begriff „unwertes Leben“ prägten, das auszulöschen galt.
Die hessische Kleinstadt Hadamar bei Limburg war in der NS-Zeit der Ort, an dem reichsweit die meisten Menschen ermordet wurden, zunächst mit Gas („Zyklon B“), dann mit tödlichen Injektionen. Die Opfer wurden sofort verbrannt, während den Angehörigen falsche Arztzertifikate und falsche Todeszeitpunkte mitgeteilt wurden. Noch heute versuchen Menschen den Todeszeitpunkt ihrer ermordeten Angehörigen zu ermitteln, so Henrik Drechsler, und bis heute schämen sich Angehörige für die ermordeten Opfer. Deshalb hält die Aufarbeitung der „Euthanasie“ bis heute an.
Brigitte Decker vom Kultur- und Heimatverein Niederzissen stellte zuletzt eine Tafel mit lokalen Bezügen vor, die sie erstellt hat. Darauf wird das Schicksal zweier Niederzissener Bürger dokumentiert, die Opfer der „Euthanasie“ wurden: Zunächst Fritz Eggener, geboren 1907 in Niederzissen. Fritz ging dort zur Schule, arbeitete danach als Händler und sang im Männergesangsverein Niederzissen. Aufgrund seiner Epilepsie landete er nach psychiatrischen Aufenthalten schließlich in der Tötungsanstalt Grafeneck, wo er 1940 mit Giftgas umgebracht wurde. Und dann Clara Friesem, geb. 1908 in Niederzissen, aufgewachsen in Burgbrohl, Ausbildung als Kontoristin in Frankfurt. Schon früh engagierte sich die emanzipierte Frau in der Gewerkschaft der Angestellten. Weil sie Bekannten, die in der kommunistischen Partei engagiert waren, eine Schreibmaschine besorgt hatte, wurde sie zu acht Monaten Gefängnis verurteilt und wurde danach in das erste Frauen-KZ eingeliefert. Nach fast sechs Jahren Gefängnis- und Lagerhaft wurde Clara 1942 in die Euthanasieanstalt Bernburg/Saale verlegt und ermordet.
Ein Teil der Täter wurde nie zur Verantwortung gezogen. So arbeitete der Mediziner Julius Hallervorden, der mit Gehirnen von Euthanasieopfern experimentiert hatte, nach dem Krieg in der Wissenschaft, erhielt sogar das Bundesverdienstkreuz und starb friedlich 1965 - auch ein Stück bundesrepublikanischer Verdrängungsgeschichte.
Die sehr berührende Ausstellung ist bis zum 19.11.2023 samstags und sonntags sowie nach Voranmeldung an Wochentagen unter 02636/6482 in der ehemaligen Synagoge, Mittelstrasse 30, 56651 Niederzissen zu sehen.