Gräber unbekannter Soldaten in Rheinbrohl: Regina Klaes erinnert sich an erschütternde Ereignisse am Kriegsende
„Das vergisst man nie, niemals“
Rheinbrohl. Fragt man ältere Rheinbrohler, welcher persönliche Feiertag früher eher gefeiert wurde, Geburtstag oder Namenstag, dann war meist die Antwort: der Namenstag. Nicht jedem waren die Daten der Namenstage aller Heiligen bekannt. Aber den „eigenen“ Heiligen und seine Geschichte kannte man schon.
Rheinbrohler, die jedoch den Zweiten Weltkrieg mit- und überlebt haben, wissen ein Namenstagdatum ganz genau, den Josefstag. Denn mit dem 19. März 1945, dem Josefstag, verbinden alle, die diesen Tag in Rheinbrohl miterlebt haben, nicht nur die Erleichterung, dass für das kleine Rheindorf der Krieg durch den Einmarsch der amerikanischen Truppen endete. Es war aber auch ein Tag der Trauer, als die in den Kellern Schutz Gesuchten am Tageslicht realisieren mussten, welche Todesopfer die letzten Luftangriffe gefordert hatten: sowohl Einheimische als auch im Ort anwesende Soldaten.
Junge Zeugin des Krieges
Regina Klaes, eine 90-jährige gebürtige Rheinbrohlerin, war an jenem Josefstag 1945 gerade mal zwölf Jahre alt. Aber bis zum heutigen Tag kann sie die Ereignisse vor, am und nach dem Josefstag nicht vergessen. Zu sehr haben sie sich in das Gedächtnis des jungen Mädchens gegraben. Bis heute lassen sie die Bilder dieser Tage besonders in den schlaflosen Nächten, aber auch tagsüber erschaudern. In der dunklen Jahreszeit, besonders im November, wo der Kriegstoten und gefallenen Soldaten besonders gedacht wird, kommen diese schlimmen Erinnerungen häufig ins Gedächtnis.
Regina Schmitz, so war ihr Mädchenname, war die Tochter vom Schmitze Meschel (Michael/Michel). Sie wohnten in der Hauptstraße 67, einem kleinen Doppelhaus schräg gegenüber des heutigen Eiscafés San Marco. Hinterm Haus war ein kleiner Stall mit darüber liegender Scheune und separat dahinter noch ein „Säuställche“, welches in der Erzählung von Regina noch eine besondere Rolle spielen sollte.
Irgendwann kam der verdammte Krieg dann auch nach Rheinbrohl. Am Sonntag, 18. März, wurde Rheinbrohl immer wieder beschossen. Nur in kurzen Feuerpausen konnte man aus dem Keller zum Plumpsklo oder einige notwendige Sachen erledigen. Selbst die Kaninchen hatte Papa Michel mit in den Keller genommen, wohin sich auch die benachbarte Familie Zwick in Sicherheit brachte, da ihre Wohnung bereits zerstört war.
Am Abend hörte man im Keller, dass Menschen im Hof von der Hauptstraße in Richtung Stall liefen, und man fragte sich, wer unter diesen gefährlichen Umständen noch ohne Schutz durch die Gegend lief. Wie sich später herausstellt, waren es sechs unbekannte deutsche Soldaten.
„Fünf Kameraden auf einmal, das ist für mich zu viel“
Die zahlreichen abgeworfenen Brandbomben zerstörten die Scheune und den Stall hinter dem Wohnhaus. Nach einiger Zeit kam ein älterer Soldat über und durch den Schutt in den Keller. Regina hört diesen älteren Mann heute noch weinen. Er hatte, weil im kleinen Stall für ihn kein Platz mehr war, Schutz im Schweinestall gesucht. Dieser blieb von den Brandbomben unversehrt. Er hatte lediglich einige Trümmer abbekommen und den Rücken dabei verletzt. Hingegen seine fünf Kameraden kamen in den Trümmern und dem Brand des Stalls und Scheune alle ums Leben. „Ich habe in Russland viel Schlimmes gesehen und erlebt. Aber fünf Kameraden auf einmal, das ist für mich zu viel“, so seine Worte im Keller. Die Frage vom Vater, ob er die Namen und Adressen der getöteten Kameraden kenne, bejahte er und versprach, deren Angehörigen zu informieren.
Papa Schmitz hatte tags zuvor zum Keller des Nachbarn einen Durchbruch geschaffen. Durch diesen konnten sie das Gebäude verlassen. Aus der Jauchegrube (Puddelsloch) wurde mit Eimern versucht den Brand des Stalls zu löschen, was nur begrenzt gelang. In den Trümmern die toten Soldaten. Es war Montag, 19. März, ein für die Jahreszeit schon recht warmer Frühlingstag. Josefstag!
Dann kamen die Amerikaner
Von Hönningen aus rückten die amerikanischen Soldaten in den Ort vor. Regina erinnert sich noch an den ersten Jeep mit vier Mann Besatzung. Stark bewaffnet mit Maschinengewehren und um den Hals Munitionsketten. „Da habe ich auch meine ersten dunkelhäutigen Menschen gesehen, das andere Wort dafür darf man heute ja nicht mehr benutzen. Sie winkten mir zu und am Kirchturm wehte eine weiße Fahne. Die konnte ich von der Hauptstraße aus durch die Rauchschwaden erkennen.“
Papa Michel aber befahl, sofort wieder in den Keller zu gehen. Von oben rief ein amerikanischer Soldat, ob noch deutsche Soldaten im Keller seien. Der ältere Soldat ließ sich von Michel Schmitz nicht überreden, im Keller zu bleiben. Trotz seiner Verletzungen stellte er sich. Regina: „Wir haben nie wieder von ihm gehört. Da sich später nie Angehörige von ihm oder den anderen fünf Soldaten meldeten, muss vermutet werden, dass der ältere Soldat nicht überlebt hat und die Angehörigen der anderen Soldaten nicht mehr informieren konnte.“
Wie alle Rheinbrohler mussten auch Regina und ihre Familie aus den Kellern ins freie Feld zwischen Rheinbrohl und Hönningen. Papa Michel bat den Kommandeur um Erlaubnis, die toten Soldaten aus den Trümmern zu bergen und sofort zu beerdigen. Das wurde ihm jedoch untersagt. Auch später bekam Michel Schmitz keine Unterstützung durch den Kommandeur. Der stellte ihm lediglich fünf Planen zu Verfügung. Mit den bloßen Händen wurde der Schutt beseitigt. Vor dem Haus türmte sich der Schuttberg immer höher. Bei der folgenden Schilderung konnte Regina die Tränen nicht zurückhalten. „Papa hat dann in den einzelnen Planen die zum Teil verkohlten menschlichen Reste der Soldaten jeweils zusammengetragen. Auf einer geliehenen Karre wurde jeder einzelne, lediglich in einer Plane verpackt, zum Friedhof gefahren und begraben. Keine trauernden Angehörige, kein Pastor, keine Freunde, nur so, einfach in die Rheinbrohler Erde beerdigt. Das vergisst man nie, niemals.“
Gedenken bis in die Gegenwart
Jahrelang war Regina regelmäßig zu Allerheiligen und an Heiligabend bei „ihren“ unbekannten Soldaten. Viele Rheinbrohler Frauen, deren Männer oder andere Angehörige in unbekannter Erde lagen, zündeten ebenfalls an den Gräbern der unbekannten Soldaten Kerzen an oder legten wie Regina jährlich zu Weihnachten ein Blumengesteck nieder. Mit der Zeit wurde die Zahl dieser Witwen immer weniger und somit auch die Zeichen des Gedenkens an diesen Gräbern.
Aber bei jedem Besuch auf dem Rheinbrohler Friedhof geht ihr Weg auch zu den unbekannten Soldaten. Dabei freut es Regina besonders, dass es bis heute Rheinbrohler Frauen und Männer gibt, die diese Grabstätten pflegen. Auch wenn diese die schreckliche Zeit und Ereignisse nicht persönlich miterlebt haben. Ihnen gilt das ganz große Dankeschön von Regina.
Alfons Stopperich