Eine Weihnachtsgeschichte
Weihnachtstanz mit Charles
von Gregor Schürer
Kennen Sie Charles Aznavour?
Er heißt eigentlich Schahnur Waghinak Asnawurjan und ist ein armenisch-französischer Chansonnier, Komponist und Filmschauspieler. Geboren 1924 in Paris und entdeckt von Edith Piaf.
Das Weihnachtsfest wird für mich auf ewig mit diesem Mann, den ich nie persönlich kennen gelernt habe, von dem ich nie ein Konzert besucht habe, verbunden bleiben. Schuld daran ist eines seiner Lieder, das er in den Siebziger Jahren in holprigem Deutsch aufgenommen hat.
Aber der Reihe nach.
Ich war Student, Maschinenbau, drittes Semester. Da traf ich Nathalie. Sie hieß eigentlich Agnes, nannte sich aber Nathalie, weil sie französische Chansons so toll fand. Und ich fand Nathalie-Agnes so toll, da war mir ihr Name ganz egal. Wir verliebten uns Hals über Kopf ineinander und wurden ein Paar, für fast ein Jahr.
Zwei Tage vor Weihnachten bestellte sie mich eines Abends in unsere Stammkneipe, wo vorzugsweise französische Musik gespielt wurde. Sie machte es ganz dringend, sie müsse etwas Wichtiges mit mir besprechen. Auf dem Weg von meiner Studentenbude in das Lokal machte ich mir mancherlei Gedanken, womöglich war ein Baby unterwegs, mit dem Verhüten nahmen wir es nicht so genau. Eine ungeplante Schwangerschaft mitten im Studium, Gott bewahre.
Es war etwas anderes. Sie teilte mir mit, dass sie jemand anderen getroffen habe. Sie würde zu Jahresbeginn die Stadt verlassen und zu ihm ziehen und es täte ihr leid. Es traf mich wie ein Blitz, mein Hirn verstand nicht, was meine Ohren hörten. „Nimm es nicht so schwer, Chérie. Komm, lass uns noch einmal tanzen, bevor wir auseinander gehen.“ Ich fühlte nur Leere, als sie mich auf die Tanzfläche zog. Doch plötzlich drangen die Melodie und Worte in mich ein, da sang Charles Aznavour:
Komm, gib Dich hin dem Gefühl, das aus der Mode kam,
Dein Herz an meinem Herz beim hämmernden Klavier
Mein Leib fühlt Deinen Leib, so weich und wundersam
Tanze Wange an Wange mit mir, tanze Wange an Wange mit mir.
Ich fühlte den schlanken Körper dieser schönen und manchmal so ernsten jungen Frau, fuhr ihr mit der Hand über ihre langen dunklen Haare und weinte. Sie löste sich, gab mir einen langen Kuss und verabschiedete sich mit einem „Adieu, mein Liebster.“ Ich habe sie nie wieder gesehen.
Merkwürdig: Nicht die leidenschaftliche Beziehung, nicht die langen Spaziergänge Hand in Hand, nicht die endlosen Diskussionen über den Sinn des Lebens - dieser eine Tanz kurz vor Weihnachten zum Lied von Charles Aznavour ist mir ewige Erinnerung an meine große Liebe.
Ich fuhr am nächsten Tag, es war Heilig Abend, nach Hause zu meinen Eltern, um die Feiertage dort zu verbringen. Als Mutter mich fragte, wie es mir ginge, brach ich in Tränen aus und erzählte ihr, dass Nathalie-Agnes mit mir Schluss gemacht hatte. „Setz dich in die gute Stube, ich koche dir erst einmal einen Kaffee“, tröstete sie mich. Während ich im Wohnzimmer wartete, stöberte ich in Papas Plattensammlung – und fand eine LP von Charles Aznavour mit seinen deutschen Titeln.
Nach Kaffee und Plätzchen brachte ich meine Sachen und auch die Langspielplatte in mein ehemaliges Jugendzimmer, wo alles noch so aussah wie bei meinem Auszug. In den nächsten Tagen hörte ich dort, auf meinem alten Plattenspieler, stundenlang die Musik von Charles Aznavour, tanzte weinend mit einem Kissen im Arm, das ich an meine Wange drückte.
Ich kam darüber hinweg, so wie man über manches, wenn nicht über alles hinwegkommt. Traf Charlotte - kein Witz, sie heißt wirklich so - die mich zurück ins Leben holte. Sie war hochgewachsen, blond, kräftig, an guten Tagen sah sie aus wie Veronica Ferres. Charlotte war immer gut gelaunt und auch gut für mich, unsere Beziehung mündete fast zwangsläufig in einer Ehe.
Als unser erstes Kind – ein Knabe – geboren wurde, stellte sich die Namensfrage. Ich schlug Charles vor. Meine Frau war begeistert. Zum einen, weil es quasi die männliche Adaption ihres eigenen Vornamens war. Zum anderen, weil sie ein Fan der britischen Monarchie ist und den Charles III. cool findet; weil er nicht nur König ist, sondern auch biologischer Landwirt.
Doch unser Charles heißt eigentlich Charles, besser noch Schahnur Waghinak Asnawurjan.
Jedes Jahr an Weihnachten, wenn wir alleine sind, weil meine Frau damit zu tun hat, alles für die Bescherung herzurichten, tanze ich mit meinem Sohn Charles, Wange an Wange, und singe dabei dieses Lied:
Wir treiben durch das Gewühl, der Lärm umhüllt uns sacht,
und auf der ganzen Welt bin ich allein mit Dir,
wir gleiten beide blind, bis auf den Grund der Nacht
Tanze Wange an Wange mit mir, tanze Wange an Wange mit mir.
Aber erzählen Sie das bloß niemandem weiter!
SCHÜ